Dr. Andreas Leupold LL. M. (UT)
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Dr. Andreas Leupold LL. M. (UT)
Rechtsanwalt | Wirtschaftsmediator
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Der Gerichtshof erklärt die Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten für ungültig

08. April 2014

Sie beinhaltet einen Eingriff von großem Ausmaß und besonderer Schwere in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf den Schutz personenbezogener Daten, der sich nicht auf das absolut Notwendige beschränkt.

Mit der Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten1 sollen in erster Linie die Vorschriften der Mitgliedstaaten über die Vorratsspeicherung bestimmter von den Anbietern öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder den Betreibern eines öffentlichen Kommunikationsnetzes erzeugter oder verarbeiteter Daten harmonisiert werden. Sie soll damit sicherstellen, dass die Daten zwecks Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten wie organisierter Kriminalität und Terrorismus zur Verfügung stehen. Die Richtlinie sieht daher vor, dass die genannten Anbieter und Betreiber die Verkehrs- und Standortdaten sowie alle damit in Zusammenhang stehenden Daten, die zur Feststellung des Teilnehmers oder Benutzers erforderlich sind, auf Vorrat speichern müssen. Dagegen gestattet sie keine Vorratsspeicherung des Inhalts einer Nachricht und der abgerufenen Informationen.

Der irische High Court und der österreichische Verfassungsgerichtshof ersuchen den Gerichtshof um  Prüfung der Gültigkeit der Richtlinie, insbesondere im Licht von zwei durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleisteten Grundrechten, und zwar des Grundrechts auf Achtung des Privatlebens sowie des Grundrechts auf Schutz personenbezogener Daten.

Der High Court hat über einen Rechtsstreit zwischen der irischen Gesellschaft Digital Rights und irischen Behörden wegen der Rechtmäßigkeit nationaler Maßnahmen zur Vorratsspeicherung von Daten elektronischer Kommunikationsvorgänge zu entscheiden. Der Verfassungsgerichtshof ist mit mehreren verfassungsrechtlichen Verfahren befasst, die von der Kärntner Landesregierung sowie von Herrn  Seitlinger, Herrn Tschohl und 11 128 weiteren Antragstellern anhängig gemacht wurden und auf die Nichtigerklärung der nationalen Bestimmung2 zur Umsetzung der Richtlinie in österreichisches Recht gerichtet sind.

Mit seinem heutigen Urteil erklärt der Gerichtshof die Richtlinie für ungültig3.

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass den auf Vorrat zu speichernden Daten insbesondere zu entnehmen ist, 1. mit welcher Person ein Teilnehmer oder registrierter Benutzer auf welchem Weg kommuniziert hat, 2. wie lange die Kommunikation gedauert hat und von welchem Ort aus sie stattfand und 3. wie häufig der Teilnehmer oder registrierte Benutzer während eines bestimmten Zeitraums mit bestimmten Personen kommuniziert hat. Aus der Gesamtheit dieser Daten können sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der Personen, deren Daten auf Vorrat gespeichert werden, gezogen werden,etwa auf Gewohnheiten des täglichen Lebens, ständige oder vorübergehende Aufenthaltsorte, tägliche oder in anderem Rhythmus erfolgende Ortsveränderungen, ausgeübte Tätigkeiten, soziale Beziehungen und das soziale Umfeld.

Der Gerichtshof sieht in der Verpflichtung zur Vorratsspeicherung dieser Daten und der Gestattung des  Zugangs der zuständigen nationalen Behörden zu ihnen einen besonders schwerwiegenden Eingriff der Richtlinie in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten.  Außerdem ist der Umstand, dass die Vorratsspeicherung der Daten und ihre spätere Nutzung vorgenommen werden, ohne dass der Teilnehmer oder der registrierte Benutzer darüber informiert wird, geeignet, bei den Betroffenen das Gefühl zu erzeugen, das s ihr Privatleben  Gegenstand einer ständigen Überwachung ist.

Sodann prüft der Gerichtshof, ob ein solcher Eingriff in die fraglichen Grundrechte gerechtfertigt ist.

Er stellt fest, dass die nach der Richtlinie vorgeschriebene Vorratsspeicherung von Daten nicht geeignet ist, den Wesensgehalt der Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener  Daten anzutasten. Die Richtlinie gestattet nämlich nicht die Kenntnisnahme des Inhalts elektronischer Kommunikation als solchen und sieht vor, dass die Diensteanbieter bzw. Netzbetreiber bestimmte Grundsätze des Datenschutzes und der Datensicherheit einhalten müssen.

Die Vorratsspeicherung der Daten zur etwaigen Weiterleitung an die zuständigen nationalen Behörden stellt auch eine Zielsetzung dar, die dem Gemeinwohl dient, und zwar der Bekämpfung schwerer  Kriminalität und somit letztlich der öffentlichen Sicherheit.

Der Gerichtshof kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass der Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten die Grenzen überschritten hat, die er zur Wahrung des  Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit einhalten musste.

Hierzu führt der Gerichtshof aus, dass angesichts der besonderen Bedeutung des Schutzes personenbezogener Daten für das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens und des Ausmaßes und der  Schwere des mit der Richtlinie verbundenen Eingriffs in dieses Recht der Gestaltungsspielraum des  Unionsgesetzgebers eingeschränkt ist, so dass die Richtlinie einer strikten Kontrolle unterliegt.

Zwar ist die nach der Richtlinie vorgeschriebene Vorratsspeicherung der Daten zur Erreichung des mit ihr  verfolgten Ziels geeignet, doch beinhaltet sie einen Eingriff von großem Ausmaß und von besonderer  Schwere in die fraglichen Grundrechte, ohne dass sie Bestimmungen enthielte, die zu  gewährleisten vermögen, dass sich der Eingriff tatsächlich auf das absolut Notwendige beschränkt.

Erstens erstreckt sich die Richtlinie nämlich generell auf sämtliche Personen, elektronische Kommunikationsmittel und Verkehrsdaten, ohne irgendeine Differenzierung, Einschränkung oder  Ausnahme anhand des Ziels der Bekämpfung schwerer Straftaten vorzusehen.

Zweitens sieht die Richtlinie kein objektives Kriterium vor, das es ermöglicht, den Zugang der zuständigen nationalen Behörden zu den Daten und deren Nutzung zwecks Verhütung, Feststellung oder  strafrechtlicher Verfolgung auf Straftaten zu beschränken, die im Hinblick auf das Ausmaß und die  Schwere des Eingriffs in die fraglichen Grundrechte als so schwerwiegend angesehen werden können, dass sie einen solchen Eingriff rechtfertigen. Die Richtlinie nimmt im Gegenteil lediglich allgemein auf  die von jedem Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht bestimmten „schweren Straftaten“ Bezug. Überdies enthält die Richtlinie keine materiell - und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für den  Zugang der zuständigen nationalen Behörden zu den Daten und deren spätere Nutzung. Vor allem  unterliegt der Zugang zu den Daten keiner vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige  Verwaltungsstelle.

Drittens schreibt die Richtlinie eine Dauer der Vorratsspeicherung der Daten von mindestens sechs  Monaten vor, ohne dass eine Unterscheidung zwischen den Datenkategorien anhand der betroffenen  Personen oder nach Maßgabe des etwaigen Nutzens der Daten für das verfolgte Ziel getroffen wird.
Die Speicherungsfrist liegt zudem zwischen mindestens sechs und höchstens 24 Monaten, ohne dass die Richtlinie objektive Kriterien festlegt, die gewährleisten, dass die Speicherung auf das absolut  Notwendige beschränkt wird.

Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest, dass die Richtlinie keine hinreichenden Garantien dafür bietet,  dass die Daten wirksam vor Missbrauchsrisiken sowie vor jedem unberechtigten Zugang und jeder  unberechtigten Nutzung geschützt sind. Unter anderem gestattet sie es den Diensteanbietern, bei der   Bestimmung des von ihnen angewandten Sicherheitsniveaus wirtschaftliche Erwägungen (insbesondere hinsichtlich der Kosten für die Durchführung der Sicherheitsmaßnahmen) zu berücksichtigen, und gewährleistet nicht, dass die Daten nach Ablauf ihrer Speicherungsfrist unwiderruflich vernichtet werden.

Der Gerichtshof rügt schließlich, dass die Richtlinie keine Speicherung der Daten im Unionsgebiet vorschreibt. Sie gewährleistet damit nicht in vollem Umfang, dass die Einhaltung der Erfordernisse des  Datenschutzes und der Datensicherheit durch eine unabhängige Stelle überwacht wird, obwohl die Charta dies ausdrücklich fordert. Eine solche Überwachung auf der Grundlage des Unionsrechts ist aber ein  wesentlicher Bestandteil der Wahrung des Schutzes der Betroffenen bei der Verarbeitung  personenbezogener Daten.


1 Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer  Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und  zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG (ABl. L 105, S. 54).

2 § 102a des Telekommunikationsgesetzes 2003, der durch das Bundesgesetz, mit dem das Telekommunikationsgesetz 2003 – TKG 2003 geändert wird (BGBl. I Nr. 27/2011), in dieses Gesetz eingefügt wurde.

3 Da der Gerichtshof die zeitliche Wirkung seines Urteils nicht begrenzt hat, wird die Ungültigerklärung zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie wirksam.

HINWEIS:
Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der  Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der  Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher  Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.


Quelle: Pressemitteilung Nr. 54/14 vom 08.04.2014, abrufbar unter http://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2014-04/cp140054de.pdf.

 

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